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- Die Farben sind zu satt für grauen Sozialhorror, und Annie ist weder eins von den hilflosen Opferwesen noch von den tapferen Märtyrern, die Kinder in solchen Filmen normalerweise sind. Sie kann gemein sein und eiskalt, genauso wie melancholisch und entrückt. Irgendwann hört sie eine Stimme aus dem Wald schallen, eine alte Frau, die um Hilfe ruft. Sie heißt Esther und ist in einen alten Brunnen gefallen. Nur Annie könne sie retten, sagt sie. Aber Annie traut ihr nicht. Denn was, wenn das nur ein Trick ist, von dem einzigen Wesen, vor dem sie sich wirklich fürchtet: dem Teufel. Ab diesem Punkt nimmt "Kid-Thing" eine seltsame, aber willkommene Wendung vom Indie-Film mit Botschaft zum surrealen Märchen mit immer rätselhafteren Motiven. Annies Vater bringt ihr bei, mit einem Stück roter Kreide ein Huhn zu hypnotisieren. Sie zerschlägt mit ihrem Baseballschläger die Geburtstagstorte eines Mädchens, das im Rollstuhl sitzt. Sie besorgt Esther ein Walkie-Talkie, aber sie weigert sich, Hilfe zu holen. Die Dinge passieren einfach, ohne Erklärung und oft ohne erkennbaren Zusammenhang, manches ist sehr lustig, dann wieder grausam. Alles wird begleitet von einem trügerisch wahllosen Soundtrack aus Pop-Rock, Folk, Oper und Easy Listening. Annie erlebt, wie die Welt um sie herum immer merkwürdiger und unwirklicher wird, und sie nimmt es hin, weil ihr ohnehin niemand sagt, wie die Welt eigentlich sein müsste. Die einzige Person, die sich mit ihr beschäftigt, ist Esther. Und die könnte Satan persönlich sein, wenn es sie denn überhaupt gibt. "Kid-Thing" ist ein sperriger Film und manchmal anstrengend in seiner unbedingten Entschlossenheit, so anders wie möglich zu sein. Doch er kann einen auch hypnotisieren und so gefügig machen wie es im Film dem Huhn passiert. Wenn man sich erst mal hineingegroovt hat, in Annies ganz persönliches absurdes Wunderland, dann will man so schnell auch nicht mehr weg.
- Die Parallelen zu Maurice Sendaks Kinderbuch-Klassiker Wo die Wilden Kerle wohnen – ein Kind projiziert seine inneren Ängste auf ein Alter Ego – liegen natürlich auf der Hand, wobei Kid-Thing noch eine Spur konsequenter ist. Annie agiert mit einer unwiderstehlichen Renitenz, ihr Coming-of-Age zielt nicht auf eine pädagogische Läuterung ab. Das Kind lässt sich nicht besänftigen, auch wenn seine wachsende Fürsorge durchaus therapeutische Wirkung zeigt. Annies Weigerung, Hilfe zu holen, lässt die Situation schließlich eskalieren. Die Forderung, Esther nur unter der Bedingung zu retten, dass sie Annie später mitnimmt, legt eine Beschädigung frei, die sozusagen auf dem Grund des Loches verborgen liegt. Esthers Protest gegen ihre Behandlung bedeutet für Annie einen erneuten Liebesentzug. Die Stimme aus dem Loch beginnt zu schweigen. Doch wie jedes Märchen besitzt auch Kid-Thing eine soziale Grundierung. Die öden texanischen Landstriche, durch die Annie streicht, beschreiben eine Lebenswirklichkeit, aus der sich die Gesellschaft weitgehend zurückgezogen hat. Annies Spur der Verwüstung ist kein Ausdruck von Emanzipation, sondern ein diffuser Wunsch nach Teilhabe. Ein Protest gegen die Verwahrlosung. So stemmt sich das Märchen permanent gegen die sozialen Verhältnisse. David und Nathan Zellner haben dieses Dilemma formal gelöst. Manchmal blickt ihre Kamera einfach lange genug auf die Versehrungen der Natur und der Menschen, bis sie dahinter noch eine fremdartige Schönheit entdeckt.
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