Der Begriff Dorfgeschichte bezeichnet eine Gattung der erzählenden Literatur, die besonders bei Autoren des 19. Jahrhunderts populär war. Die Gattungsbezeichnung stammt aus der Zeit um 1840 und stößt auf Kritik, weil die Abgrenzung zu anderen Erzählformen wie Bauernroman und Kalendergeschichte schwerfällt. Kennzeichen der Dorfgeschichte sind ihr Schauplatz, das dörfliche Milieu, und ihre realistischen Gestaltungsmittel. Sie kann Sozial- und Kulturkritik enthalten, aber auch idyllisierende Züge aufweisen. In literarisch weniger qualitätvollen Exemplaren der Gattung dient der dörfliche Lebenszusammenhang als Projektionsfläche für Wunschvorstellungen der gebildeten Schichten: Die Dorfsphäre wird zur einfachen, überschaubaren, heilen Welt verklärt und in Gegensatz zur zivilisationsgeschädigten

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  • Der Begriff Dorfgeschichte bezeichnet eine Gattung der erzählenden Literatur, die besonders bei Autoren des 19. Jahrhunderts populär war. Die Gattungsbezeichnung stammt aus der Zeit um 1840 und stößt auf Kritik, weil die Abgrenzung zu anderen Erzählformen wie Bauernroman und Kalendergeschichte schwerfällt. Kennzeichen der Dorfgeschichte sind ihr Schauplatz, das dörfliche Milieu, und ihre realistischen Gestaltungsmittel. Sie kann Sozial- und Kulturkritik enthalten, aber auch idyllisierende Züge aufweisen. In literarisch weniger qualitätvollen Exemplaren der Gattung dient der dörfliche Lebenszusammenhang als Projektionsfläche für Wunschvorstellungen der gebildeten Schichten: Die Dorfsphäre wird zur einfachen, überschaubaren, heilen Welt verklärt und in Gegensatz zur zivilisationsgeschädigten Stadt gesetzt. Als Namensgeber der Gattung kommen Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843, mit dem Nachzügler Barfüßele 1856) in Frage. Nach Oskar Walzel handelt es sich aber bereits beim „Oberhof“-Kapitel von Immermanns Roman Münchhausen (1839) um eine Dorfgeschichte, was von manchen bestritten wird. Anstelle von anfechtbaren Definitionen stellt Gero von Wilpert eine Typologie der Dorfgeschichte auf. Er charakterisiert dazu Werke und Werkgruppen, in denen Dichter seit dem späten Mittelalter die dörfliche Welt schildern: Dörperliche Dichtung, Meier Helmbrecht, Wittenwilers Ring, Facetien und Schwänke, Der abenteuerliche Simplicissimus, Anakreontik, Hallers Die Alpen, Pestalozzis Lienhard und Gertrud, Werke von Johann Heinrich Voß, Mathias Claudius, Johann Peter Hebel, Jeremias Gotthelf. Die Zeitreihe enthält anfangs Dichtungen, in denen der Bauernstand von höfisch-ritterlichem oder stadtbürgerlichem Standpunkt aus lächerlich gemacht wird, während gegen Ende, in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. und der ersten des 19. Jahrhunderts, die bäuerlich-dörfliche Welt genauso ernstgenommen und wertgeschätzt wird wie andere menschliche Lebensformen. (Aufhebung der sogenannten Ständeklausel). Dichtungen wie Das Haidedorf (Adalbert Stifter 1840), Die Judenbuche (Annette von Droste-Hülshoff 1842), Die Heiterethei und ihr Widerspiel (Otto Ludwig 1857) sieht von Wilpert weit über die sympathisierende Milieuschilderung hinausragen. Als „höchste Erfüllung der Gattung“ betrachtet er Romeo und Julia auf dem Dorfe (Gottfried Keller 1856). Auch erinnert er mit Namen wie Balzac, George Eliot, Hamsun, Turgenew daran, dass die dichterische Beschäftigung mit der dörfliche Welt eine europäische Erscheinung war. Deutschsprachige Dorfgeschichten schrieben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Alfred Hartmann, Friedrich Gerstäcker, Marie von Ebner-Eschenbach, Ludwig Anzengruber, Ludwig Ganghofer und Karl May (u. a. Die Rose von Ernstthal 1874 und Erzgebirgische Dorfgeschichten 1903). Auch Friedrich Hebbel, aus armem ländlichem Milieu herkommend, hat einige Geschichten in dörflicher Szenerie spielen lassen, sich aber zugleich in scharfen Worten gegen die „Bauern-Verhimmlung unserer Tage“ ausgesprochen, so dass Jürgen Hein ihn als Begründer der „Anti-Dorfgeschichte“ bezeichnet. Nach Bernhard Spies entstanden auch im 20. Jahrhundert Dorfgeschichten, obwohl die Gattungsbezeichnung außer Gebrauch kam. Beispiele sind: Oskar Maria Grafs Dorfgeschichtenzyklus Finsternis (1926) und Anna Seghers’ Der Kopflohn (1933). Jüngere Versuche, sich des Genres zu bedienen, stammen von Geert Mak: Wie Gott verschwand aus Jorwerd (deutsch 1999), sowie Katrin Rohnstock und Rosita Müller: Das Dorf lebt (2007). (de)
  • Der Begriff Dorfgeschichte bezeichnet eine Gattung der erzählenden Literatur, die besonders bei Autoren des 19. Jahrhunderts populär war. Die Gattungsbezeichnung stammt aus der Zeit um 1840 und stößt auf Kritik, weil die Abgrenzung zu anderen Erzählformen wie Bauernroman und Kalendergeschichte schwerfällt. Kennzeichen der Dorfgeschichte sind ihr Schauplatz, das dörfliche Milieu, und ihre realistischen Gestaltungsmittel. Sie kann Sozial- und Kulturkritik enthalten, aber auch idyllisierende Züge aufweisen. In literarisch weniger qualitätvollen Exemplaren der Gattung dient der dörfliche Lebenszusammenhang als Projektionsfläche für Wunschvorstellungen der gebildeten Schichten: Die Dorfsphäre wird zur einfachen, überschaubaren, heilen Welt verklärt und in Gegensatz zur zivilisationsgeschädigten Stadt gesetzt. Als Namensgeber der Gattung kommen Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843, mit dem Nachzügler Barfüßele 1856) in Frage. Nach Oskar Walzel handelt es sich aber bereits beim „Oberhof“-Kapitel von Immermanns Roman Münchhausen (1839) um eine Dorfgeschichte, was von manchen bestritten wird. Anstelle von anfechtbaren Definitionen stellt Gero von Wilpert eine Typologie der Dorfgeschichte auf. Er charakterisiert dazu Werke und Werkgruppen, in denen Dichter seit dem späten Mittelalter die dörfliche Welt schildern: Dörperliche Dichtung, Meier Helmbrecht, Wittenwilers Ring, Facetien und Schwänke, Der abenteuerliche Simplicissimus, Anakreontik, Hallers Die Alpen, Pestalozzis Lienhard und Gertrud, Werke von Johann Heinrich Voß, Mathias Claudius, Johann Peter Hebel, Jeremias Gotthelf. Die Zeitreihe enthält anfangs Dichtungen, in denen der Bauernstand von höfisch-ritterlichem oder stadtbürgerlichem Standpunkt aus lächerlich gemacht wird, während gegen Ende, in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. und der ersten des 19. Jahrhunderts, die bäuerlich-dörfliche Welt genauso ernstgenommen und wertgeschätzt wird wie andere menschliche Lebensformen. (Aufhebung der sogenannten Ständeklausel). Dichtungen wie Das Haidedorf (Adalbert Stifter 1840), Die Judenbuche (Annette von Droste-Hülshoff 1842), Die Heiterethei und ihr Widerspiel (Otto Ludwig 1857) sieht von Wilpert weit über die sympathisierende Milieuschilderung hinausragen. Als „höchste Erfüllung der Gattung“ betrachtet er Romeo und Julia auf dem Dorfe (Gottfried Keller 1856). Auch erinnert er mit Namen wie Balzac, George Eliot, Hamsun, Turgenew daran, dass die dichterische Beschäftigung mit der dörfliche Welt eine europäische Erscheinung war. Deutschsprachige Dorfgeschichten schrieben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Alfred Hartmann, Friedrich Gerstäcker, Marie von Ebner-Eschenbach, Ludwig Anzengruber, Ludwig Ganghofer und Karl May (u. a. Die Rose von Ernstthal 1874 und Erzgebirgische Dorfgeschichten 1903). Auch Friedrich Hebbel, aus armem ländlichem Milieu herkommend, hat einige Geschichten in dörflicher Szenerie spielen lassen, sich aber zugleich in scharfen Worten gegen die „Bauern-Verhimmlung unserer Tage“ ausgesprochen, so dass Jürgen Hein ihn als Begründer der „Anti-Dorfgeschichte“ bezeichnet. Nach Bernhard Spies entstanden auch im 20. Jahrhundert Dorfgeschichten, obwohl die Gattungsbezeichnung außer Gebrauch kam. Beispiele sind: Oskar Maria Grafs Dorfgeschichtenzyklus Finsternis (1926) und Anna Seghers’ Der Kopflohn (1933). Jüngere Versuche, sich des Genres zu bedienen, stammen von Geert Mak: Wie Gott verschwand aus Jorwerd (deutsch 1999), sowie Katrin Rohnstock und Rosita Müller: Das Dorf lebt (2007). (de)
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  • Der Begriff Dorfgeschichte bezeichnet eine Gattung der erzählenden Literatur, die besonders bei Autoren des 19. Jahrhunderts populär war. Die Gattungsbezeichnung stammt aus der Zeit um 1840 und stößt auf Kritik, weil die Abgrenzung zu anderen Erzählformen wie Bauernroman und Kalendergeschichte schwerfällt. Kennzeichen der Dorfgeschichte sind ihr Schauplatz, das dörfliche Milieu, und ihre realistischen Gestaltungsmittel. Sie kann Sozial- und Kulturkritik enthalten, aber auch idyllisierende Züge aufweisen. In literarisch weniger qualitätvollen Exemplaren der Gattung dient der dörfliche Lebenszusammenhang als Projektionsfläche für Wunschvorstellungen der gebildeten Schichten: Die Dorfsphäre wird zur einfachen, überschaubaren, heilen Welt verklärt und in Gegensatz zur zivilisationsgeschädigten (de)
  • Der Begriff Dorfgeschichte bezeichnet eine Gattung der erzählenden Literatur, die besonders bei Autoren des 19. Jahrhunderts populär war. Die Gattungsbezeichnung stammt aus der Zeit um 1840 und stößt auf Kritik, weil die Abgrenzung zu anderen Erzählformen wie Bauernroman und Kalendergeschichte schwerfällt. Kennzeichen der Dorfgeschichte sind ihr Schauplatz, das dörfliche Milieu, und ihre realistischen Gestaltungsmittel. Sie kann Sozial- und Kulturkritik enthalten, aber auch idyllisierende Züge aufweisen. In literarisch weniger qualitätvollen Exemplaren der Gattung dient der dörfliche Lebenszusammenhang als Projektionsfläche für Wunschvorstellungen der gebildeten Schichten: Die Dorfsphäre wird zur einfachen, überschaubaren, heilen Welt verklärt und in Gegensatz zur zivilisationsgeschädigten (de)
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  • Dorfgeschichte (de)
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